Beruf: Erzähler
Geschichtenerzähler ist (auch) ein Beruf.
Davon soll hier -
unter anderem - die Rede sein.
Nicht aber soll hier weiter eingegangen werden auf die
Geschichtenerzählerin als Gegenstand der Literatur (Alan Sillitoe: Der Mann,
der Geschichten erzählte, ursprünglich London 1979; Mario Vargas Llosa: Der
Geschichtenerzähler, ursprünglich Barcelona 1987; Joel ben Izzy: Der
Geschichtenerzähler oder das Geheimnis des Glücks, ursprünglich New York
2003 u.a.) oder als Figur in der literarischen Erzählung. Auch nicht
eingegangen werden soll auf die literarische Erzählung (Otto Kruse: Kunst
und Technik des Erzählens, Frankfurt 2001)
Geschichte
Die Geschichtenerzählerin (männliche und weibliche
Formen werden abwechselnd benutzt) wird seit alters her in vielen Kulturen
angetroffen. Einen Überblick gibt: Johannes Merkel/ Michael Nagel: erzählen,
die wiederentdeckung einer vergessenen kunst, Reinbek 1982.
Im
anglo-amerikanischen Kulturbereich als ''storyteller'' bezeichnet, in den
Königsgesellschaften der Sahel-Zone als ''griot'' (fr.) oder ''praise-singer''
(engl.).
Der mitteleuropäische Geschichtenerzähler dürfte seine Wurzeln
im mittelalterlichen Minnesänger, im Troubadour haben. Auch der Hofnarr oder
der Sänger der Heldenlieder und Sagen ist ein Vorfahr der heutigen
Geschichtenerzählerin. Michael Dollendorf hat das schön anschaulich gemacht.
Unterscheidungen schwierig
In vielen Kulturen hat der
Geschichtenerzähler auch rituelle Funktionen, die über das Wachhalten der
Erinnerungen an die Erfahrungen der Ahnen hinaus gehen, also Aufgaben in
religiösen Kulten. Das ist beispielsweise bei den Schamanen der Fall, aber
auch im Sufismus, der neuerdings eine reiche Quelle für viele Erzähler auch
im deutschsprachigen Raum geworden ist. Nicht einfach klären läßt sich, ob
der Priester auch Erzähler ist oder ob der Erzähler auch Priester ist. Diese
Überschneidung wird in der heutigen Religionspädagogik deutlich, auch im
therapeutischen Bereich (storytelling as a healing art).
Geschichtenerzählerin wird hier als Oberbegriff behauptet für alle Arten der
Erzähler, seien es z.B. Sagenerzählerinnen, Bettkanten-Erzähler, Stadt- oder
Museumsführer, oder auch Märchenerzählerinnen.
Der übliche
Sprachgebrauch, Erzähler entweder als Schriftsteller oder aber als
Märchenerzähler zu begreifen, sollte aufgegeben werden.
In vielen
Kulturen gibt es eine Unterscheidung zwischen Märchen- und
Geschichtenerzählern.
In der Sahel-Zone wurden Märchen im häuslichen
Kreis vorwiegend von Frauen erzählt; die (früher nur männlichen) griots
dagegen erzählten die Historie der Könige, Jäger und Vorfahren, erzählten
Parabeln, die der Entscheidungsfindung bei einer Brautwerbung, bei einer
Kriegsvorbereitung, einem Friedensschluss dienten.
In vielen Kulturen
kann das Märchenerzählen tendenziell den Frauen und dem Freizeitbereich
zugeschrieben werden, das Geschichte(!)-Erzählen den Männern und der
Finanzierung des Lebensunterhalts.
Dies wird hier deshalb so betont, weil
diese Tendenzen auch hier und heute Auswirkungen zu haben scheinen für die
Professionalisierung der Erzählerinnen. Geschichtenerzähler tragen nicht
nur, aber überwiegend ihre eigenen Geschichten vor. Sie stehen dann in der
Tradition der ''oral literature''. Die Frage der Quelle gewinnt auf dem
Hintergrund des Urheberrechts immer mehr an Bedeutung: Langsam setzt sich
die Erkenntnis durch, dass eine Bearbeitung aus einer Quelle noch keine
eigene Geschichte macht, sondern der Erlaubnis bedarf. Dies haben
Erzählerinnen lange anders gehandhabt. Bei den ''urban legends'' wird das
Problem besonders deutlich. Als Geschichtenerzähler bezeichnen sich meist
die Erzähler, die nicht nur Märchen erzählen. Und so wird die Bezeichnung
hier im engeren Sinne gebraucht.
Eine andere Unterscheidung betrifft die
zu anderen Künsten. Natürlich erzählen auch Filme, erzählt auch ein Bild
oder das Theater oder eine Komposition. Aber zunächst einmal erzählt der
Erzähler.
Wenn also eine Erzählerin z.B. ästhetische Mittel des Theaters
für ihren Vortrag verwendet, macht sie möglicherweise Erzähltheater.
Vielleicht ist sie eher eine Schauspielerin, die auch erzählt. Aus der Sicht
der Erzähler ist die Lesung eines Autors etwas anderes als freies Erzählen.
Aber auch Trauerredner, Propagandisten, Poetry Slam Performer oder Redner
dürften eher am Rande des Erzählerspektrums anzusiedeln sein, obwohl gerade
die Überschneidungen reizvoll sind und die Erzählkunst lebendig halten.
In der Frage der Standortfindung der Erzähler werden solche Fragen manchmal
wichtig; der Purismus, also die Begrenzung auf die ureigensten Mittel des
Erzählers, gewinnt an Bedeutung.
Auf der anderen Seite führen
Marketingstrategien leicht zur Ausweitung der Erzählerinnentätigkeit, sie
wird auch Schauspielerin, Autorin, Therapeutin, Moderatorin im Bereich der
Wirtschaft, Lehrerin, Leseförderin, Missionarin des Zuhörens oder
Seelsorgerin.
Zur Renaissance
Während das Märchen-Erzählen mehr oder weniger
durchgängig im privaten und halböffentlichen Raum gepflegt wurde, beginnt
die Renaissance der Geschichtenerzähler im engeren Sinne um 1980. Folke
Tegetthoff, Graz, hat seinen ersten Auftritt 1979; Stefan Kuntz, Köln, 1980;
seit 1982 erzählt die Kleinste Bühne der Welt (Jörg Baesecke und Hedwig
Rost) ihre Geschichten; Yusuf Naoum erzählt seit 1983 Kaffeehausgeschichten.
Festivals
(Auswahl überwiegend deutschsprachig und wiederkehrend)
Graz erzählt, Erzähl mir was (Remscheid), Zwischen-Zeiten (Aachen),
ZauberWort (Nürnberg), Internationales Erzählfestival (Bergisch Gladbach),
Märchen-Festival (Neukirchen-Vluyn)
Ausbildung
Akademie Remscheid; Universität Bremen; Universität
der Künste, FB 9, Berlin;
Dazu hat Martin Ellrodt sich auf erzaehlen.de
tiefere Gedanken gemacht.
Berufsaussichten
Ute Weidinger und Michl Zirk haben dazu eine
Gesprächsrunde beim ZauberWort 2007 moderiert.
Dabei wurde eine
Gagenrichtline protokolliert: 400 Euro je Person und Aufritt, oder aber 3
Euro pro Kind bei Schulvorstellungen mit mehreren Klassen (Martin Ellrodt).
Der 2012 gegründete Verband der Erzählerinnen und Erzähler setzt sich als
Berufsorganisation für Erzähler-Interessen ein.
Erzählweisen
- die inneren Bilder
- die Lemniskate (Anthroprosophie)
-
Erzählkunst
- Erzählen als Interaktion mit dem Zuhörer
Literatur:
Kristin Wardetzky: Erzählen - Kunst oder Nicht-Kunst?
Stefan Kuntz: Zuhören - Erzählen - Schreiben. Für eine lebendige Kommunikation und in: WortSpiegel 3/4, 2004
und: "Neue Geschichten braucht das Land", in "WEGE",
Juli 2014